Bambini

Die italienische Familie im Wandel


Martina ist ein zauberhaftes kleines Mädchen mit dunkelblonden Haaren, großen dunklen Auge und schier unerschöpflicher Energie. Dreieinhalb Jahre alt ist Martina, sie plappert den ganzen Tag drauf los, jagt hinter kleinen Katzen her, verlangt nach Jogurt und Nutella, zieht ein Gesicht, wenn es Spinat und Karotten gibt. Martina geht seit gut einem halben Jahr in den Kindergarten, wo sie auch die anderen Kinder mit ihren Energien ansteckt, sich selber aber oft bei den anderen, und zwar mit Erkältungskrankheiten. Ihre Eltern sind oft besorgt, machen häufige Kontrollen beim Kinderarzt, zahlen viel Geld für bestimmte Untersuchungen und vor allem für Medikamente, die das magere italienische Gesundheitssystem nicht als erstattungsfähig vorsieht.


Martina lebt in der Hauptstadt der Insel Sardinien, wo sie leider kaum in die Natur kommt. Die Stadt hat keinen Platz für Kinder und vor der Sommerhitze und der stechenden Sonne müssen sie nach einhelliger Meinung von Medizinern und Eltern geschützt werden. Martina ist deshalb oft zuhause, wird umsorgt und umhegt. Wenn die Eltern, beide Lehrer, in der Arbeit sind, kommt auch schon mal ein Kindermädchen. Spielsachen hat Martina auch. Am liebsten sind ihr die Zeichentrickfilme im Fernsehen oder von der Videocassette, die sie selbst aussuchen, ein- und in Gang setzen kann. Ein typisches italienisches Kind, ein inzwischen auch typisches Einzelkind. Fast die Hälfte der italienischen Paare hat nur noch ein einziges Kind. Die Geburtenrate in Italien ist mit die niedrigste auf der ganzen Welt. Das einst so kinderfreundliche Land ist plötzlich ein feindlicher Ort für den Nachwuchs. Wo ist das Klischee von der Mamma, dick und rund und ihrer Schar von lärmenden, barfüßigen bambini – nun vielleicht noch auf alten Postkarten und in den Köpfen derer, die nicht wahrhaben, dass Italien von Nord bis Süd zu einer modernen Industrie- und Konsumgesellschaft geworden ist, in der Kinderreichtum direkt in die Armut führt. Auf dem Lande braucht es keine Schar von Helfern, seit es starke Traktoren gibt.


In den Städten muss man auf Kinder verzichten, weil der Anspruch an den individuellen Wohnraum stark gestiegen ist. Heute leben etwa 80 Prozent der jungen Italiener zwischen 15 und 29 Jahren zuhause bei den Eltern. Bevor sie nicht ein Eigenheim, Haus oder Wohnung, beziehen können, verzichten sie lieber auf Eigenständigkeit und damit auf Ehe und Familie. Tatsächlich ist das Alter der Brautleute in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, liegt beim sposo, dem Bräutigam bei 30 Jahren, bei der sposa, der Braut bei über 26 Jahren. Die Folge ist, dass seit den siebziger Jahren die Zahl der Hochzeiten von 400.000 auf 300.000 zurückgegangen ist. Und die weitere Folge ist ein massiver Rückgang der Geburtenzahlen, denn so viel Tradition muss schon noch sein, dass die Kinder, wenn sie auf die Welt kommen, zwei anständig verheiratete Eltern haben. Zum Rückgang der Geburten haben aber auch noch andere Faktoren beigetragen. Etwa die Aufklärung der jungen Leute, die unfreiwillige Schwangerschaften erheblich vermindert hat, wie im übrigen auch die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. Und dann natürlich die gehoben Bedürfnisse nach Komfort, Sicherheit , Unabhängigkeit und Freiraum sowohl für die berufliche Entwicklung wie auch die Gestaltung der Freizeit.


Viele Frauen sind berufstätig in Italien, auch sie haben das Problem der Doppelbelastung und ziehen deshalb einen kleinen Haushalt mit nur einem Kind der Großfamilie vor. Steuerlich gab es für Familien bisher praktisch keine Vergünstigungen, sodass aus wirtschaftlicher Sicht die Entscheidung oft zuungunsten eines üppigen Familienlebens ausfällt. Kinder haben ist teuer. Kleider, Essen, Schule und Berufsausbildung, das alles muss genau kalkuliert werden, bevor man sich den Kinderwunsch erfüllt. Von mangelnder Liebe zu den Kleinen kann deshalb aber nicht die Rede sein. Martina, das kleine quirlige Mädchen aus Cagliari kann sich bessere Eltern nicht wünschen.


Mit Engelsgeduld, ohne jeden Zwang und Züchtigung wird Martina behutsam erzogen. Dass vieles schief geht, dass die bambini nicht immer folgen, ja manchmal sogar alles andere als pflegeleicht sind, stört in Italien kaum jemanden. Kinder sind etwas anderes als kleine Erwachsene, sie genießen Narrenfreiheit und die Sicherheit, dass ihnen alles verziehen wird, womit man –hoffentlich - den Grundstein für ihre eigene spätere Toleranz legt.


September 1996

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