Die Polizei kam im Morgengrauen und sie nahm einen aus ihren eigenen Reihen fest – nicht irgendeinen, sondern den Chef höchstpersönlich. Seit ein paar Stunden sitzt er im Kittchen, der Carabiniere-General Francesco Delfino, der höchstdekorierte Polizist der stolzesten Polizeieinheit Italiens. Die Vorwürfe gegen ihn sind geradezu monströs. Generale Delfino hat nicht etwa nur mal falsch geparkt oder aus Eifersucht einen Nebenbuhler um die Ecke gebracht – was man hierzulande zumindest noch verstehen, wenn auch nicht entschuldigen kann.
Delfino hat mit Entführerbanden gemeinsame Sache gemacht. Das behauptet der Staatsanwalt Spano in der norditalienischen Stadt Brescia, wo sich vor einigen Monaten ein dramatischer Entführungsfall abgespielt hat. Giuseppe Soffiantini, ein Reicher Industrieller war mutmaßlich von sardischen Kidnappern verschleppt worden. Die Verhandlungen über seine Freilassung zogen sich monatelang hin. Einmal schien es so weit zu sein, da sollte die Übergabe von Lösegeld stattfinden. In einem Dorf in den Abruzzen, die aber misslang. Stattdessen gab’s eine Schießerei. Ein Carabiniere wurde dabei erschossen, ein Entführer so schwer verletzt, dass er nach einigen Tagen starb, nicht ohne vorher ein paar Details der Entführung preisgegeben zu haben. Es dauerte aber noch einmal einige Wochen bis Giuseppe Soffiantini nach 237 Tagen in der Hand seiner Entführer endlich freikam. Eine spektakuläre Aktion vor laufenden Kameras, ein bärtiger, aber gesunder 62jähriger Mann, der in den Schoss seiner Familie zurückkehrt, eine stolze Brigade von Carabinieri, die unter Leitung ihrer Bosse einen dramatischen Entführungsfall beendet hatte. Ein Fall der ständig für Schlagzeilen sorgte, weil einmal das Ohrläppchen des Entführten auftauchte, ein anderes Mal Teile der Entführerbande festgenommen wurden. Schlagzeilen auch deshalb, weil das Zahlen von Lösegeld in Italien schlichtweg verboten ist, doch inzwischen niemand mehr zweifelt mindestens eine Million Mark für die Freilassung des Entführten bezahlt wurden.
Wahrscheinlich sogar das doppelte – denn die zweite Million ging geradewegs an den Carabiniere General Delfino , so jedenfalls die Anschuldigung der Ermittlungsrichter. Der habe sich über Verwandte des entführten Industriellen seinen Teil ausbezahlen lassen für die Vermittlung mit den Kidnappern, eine Art Maklergebühr für die Freilassung. Die Beweise scheinen dramatisch: In Delfinos Wohnung wurde eine Banknote gefunden, die zur Lösegeldsumme gehörte. Und außerdem zwei Taschen, die für die Lösegeldübergabe benützt wurden, Plastikbehälter mit Firmenaufdruck die nirgendwo im Handel sind und deshalb nicht zufällig in des Generals Wohnung gekommen sein können. Und die Vorwürfe gehen weiter.
Delfino habe auch schon in vorangegangenen Fällen von bevorstehenden Entführungen gewusst, sie aber nicht verhindert, um dann in vermeintlicher brillanten Aktionen die Freilassung der Geiseln zu erreichen – alles für Geld und vor allem für die Ehr. Der General hat mehr Orden, als seine Brust tragen kann. Jetzt sitzt er im Knast und spricht von Komplott. Sein Anwalt behauptet, man wolle Delfino aus dem Wege räumen und diskreditieren, weil er zu viel wisse, über Politik und Mafia. In Italien ist wieder mal ein gewaltiges Ränkespiel ausgebrochen, das die Nation noch Monate wenn nicht Jahre beschäftigen wird.
April 1998