Soviel geballtes Wissen hat der schiefe Turm von Pisa noch nie in seinem Leben gesehen. An die 150 Gäste aus aller Welt hatten sich an seinem Krankenbett eingefunden und zunächst heftig die Stirne gerunzelt. Tiefgefurchte Wissenschaftler-Sorgenfalten begleiteten die Diskussion um Drücke und Reibung, um Zug- und Schubkräfte, um Fundamente und Mauerwerk und Erdschichten. Und zweitägiger intensiver Beratung kam nun endlich die erlösende Diagnose. Der Turm ist überm Berg, er wird vorerst nicht mehr umfallen. Die kombinierte Turmkur aus Gegengewichten und Erdentnahme aus dem Untergrund und zwar an jener Seite, die der Neigung entgegengesetzt ist hat bewirkt, dass der Turm sich zum ersten Mal in seiner langen Neigungsgeschichte wieder ein bisschen aufgerichtet hat.
Geotechniker aller Länder sind nun also einig, dass die Sache mit dem Turm in Pisa endlich sitzt und zwar richtig. Gestern Abend, zum Ende des Symposiums gab’s denn schon mal zwischendrin ein Lächeln um sonst ernst gebogene Münder und ein Aufblitzen hinter dicken Hornbrillen. Da konnte man dann feststellen, dass der berühmteste Turm der Welt vorwiegend Männersache ist und dass er für die Untergrund- und Überbau-Experten nicht nur ein Sorgenkind mit Eigenleben, sondern auch eine Art Lieblingsspielzeug ist. Wohl kein Bauwerk auf der Welt ist so gründlich erforscht worden und so eingehend untersucht worden, wie der Schiefe Turm. Und wenn nicht genau das streng verboten wäre, dann hätten sie ihn wohl am liebsten Stück für Stück auseinandergenommen, einmal hineingeschaut und dann wieder zusammengesetzt - wie einen gigantischen Baukasten.
Der Schiefe Turm war zwei Tage lang für die Statiker und Techniker, Ingenieure und Architekten die kleine Flucht aus der Betonwelt der Bürobauten und der Zubringerbrücken. Sie durften sich delektieren an kunstvollem Marmor, an Säulchen und Kapitellen, den Nervenkitzel des beinahe eingestürzten und die Genugtuung des nun wohl geretteten Turms zelebrieren, garniert mit Wein und Pasta. Heute wird der Ministerpräsident persönlich erscheinen. Massimo D‘Alema, der einst in Pisa auf eine Eliteschule ging, wird seine Meinung beisteuern zum Thema: der Turm von Pisa: ein universales Kulturgut. Der Turm scheint überm Berg aber noch immer treffen aus aller Welt ernstgemeinte Vorschläge zu seiner Rettung ein - zum Beispiel von einem indischen Schüler, der sogar eine Zeichnung der von ihm erfundenen Stützwand seinem Schreiben an die Turmrettungsgesellschaft von Pisa beilegte.
Und der mit den Worten schließt: wenn ihnen meine Idee gefällt, dann setzten Sie sie ruhig in die Tat um. Glücklich, auf diesem Wege den Turm gerettet zu haben sehe ich ihrer Nachricht entgegen, ihr ergebener Kumbhar Dileepkumar Haridas. Hiermit sei der junge Mann nun informiert darüber, dass sein Vorschlag leider zu spät kam.
August 1999