Rumstehen

 Die Kunst des Stehens


Eine Glosse von KARL HOFFMANN

Das Geheimnis liegt in der Lässigkeit, dem leichten Hin- und Herwiegen von einem Fuß auf den anderen, dazu in der ausgeprägten Gestik der oberen Körperhälfte und schließlich im nie versiegenden Strom von gewechselten Worten. Das sind die Ingredienzien der Kunst des Stehens, des Herumstehens. Nicht Sitzfleisch braucht man in Italien, sondern Standfestigkeit. Ich steh grade am Hafen, natürlich nicht alleine. Ich könnte auch auf einer Piazza stehen. In Rom oder in Neapel oder in Villavallelonga.


Wo immer das liegt. Es ist ganz egal. Wo man sich auch hinstellt in Italien, man steht nie lange allein. Stehen, das ist hierzulande ein stehend fester Begriff. nein, nicht herumlungern, die Zeit stehlen oder den Platz verstellen. Stehen als Lebenszweck, als aufrechtes Gesamtkunstwerk, als soziales Engagement, als ein Zeichen von Rückgrat sozusagen. Das Stehen, das von geistiger Plattfüßigkeit zu aufrechter Weltläufigkeit führt. Sprachlich bereits unterscheidet sich das italienische Stehen fundamental von jenem in Deutschland so diskriminierten. Der Deutsche tut’s ab mit einem armseligen zweisilbigen Wörtchen. Der Italiener braucht drei: stare in piedi. Nicht, um dem Vorurteil - typisch Südländer - entsprechend viele Worte zu gebrauchen, sondern um den Akt als solchen zu beschreiben. Stare in piedi: auf den Füßen seiend. Stantepede, sagte einst der Lateiner, stehenden Fußes und das kommt der Sache langsam näher: der Fuß steht, der Rest geht: die Arme zur Theke zum Glas, die Augen zur schlanken und leichtbekleideten Passantin, der Mund geht sowieso, über alles was sich gerade tut, getan hat und vielleicht würde tun können.


Hier am Hafen, auf der Piazza oder sonst irgendwo auf der Welt. Stehend, festverwurzelt mit der Vertrautheit der heimischen Pflastersteine lässt der Italiener die Welt an sich vorüberziehen, vor seinem wirklichen oder dem geistigen Auge. Natürlich ist diese Betrachtung des Weltenlaufs Männersache - das ist eine feststehende Regel. Morgens sind die Rentner dran, die ihre ausgiebigen Standzeiten aus purem Übermut oft durch einige wenige Schritte auflockern: um fürs Bocciaspielen Anlauf zu nehmen. Dann sind die Arbeitnehmer in ihrer Mittagspause dran, die zum Reden, gestikulieren und Beobachten auch noch das Kunststück fertigbringen, im Stehen rechtshändig ein Glas Wein zu trinken, linkshändig ein Tramezzino, ein belegtes Weißbrot, zu essen. Da bleibt sogar noch ein Fuß frei, um den neuesten Schlager aus der Musikbox mit zu steppen.


Abends trifft sich die Jugend zum Stehen. Mädchen links, Jugen rechts, da läuft die große Anmache, ohne dass sich einer vom Fleck rührt. Der unbedarfte Tourist setzt sich an ein Tischchen, bestellt einen Campari und will all das stehende Volk genüsslich betrachten. und stellt dabei verwundert fest, dass alle Augen auf ihn gerichtet sind. Auf einen, der sich so ungeniert hinsetzt und aus halber Höhe die Leute anschaut, haben die, die da stehen, ja gerade gewartet. Da hat sich das Stehen für heute schon wieder gelohnt. 


Juli 1991

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